Alltags-Wahnsinn

scheinbar „normale“ Welt


Zwei Monate, 65 Tage, rund 93800 Minuten durchgehalten. Wenige davon wirklich gestaltet. Bewegen uns zwischen den Räumen wie ein Fremder, abgesetzt um zu warten. Zu warten auf was? Auf das Ende des Tages, das Ende der Nacht, den Sonnenaufgang am nächsten Morgen.
Manchmal greift einer von uns hindurch, durch die dicke Milchglaswand, die uns von der Welt trennt. Greift nach einer Handvoll Leben und zieht ganz schnell erschrocken selbige wieder zurück in den sicheren Raum hinter der Milchglaswand. Es wimmelt von Menschen, die uns sagen, was wir zu denken, wie wir zu leben, was wir zu fühlen, zu mögen, zu glauben, zu sein haben. Einer von uns wagt sich immer mal wieder vor, stellt Annoncen ins Netz und sucht nach Menschen, die passen könnten, während ein anderer nur panisch darauf wartet, dass die nächste Bombe hochgeht, die nächste Lawine uns überrollt. Und dann sitzen wir wieder in unserem Gefängnis und starren die Wände an, die wir wirklich schön bunt gestaltet haben.
Wenn wir es nur spüren könnten, das Leben. Jeder Schritt ist wie ein Wandeln in der Unwirklichkeit. Einzig die Musik die über die Ohrstöpsel direkt in uns hineinklingt, die scheint real und jetzt und wirklich…………………
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Ich erinnere eine Zeit, lange her. Der Körper war gerade 15. Ich auch. Auf den Ohren dröhnten abwechselnd nur Songs von den Toten Hosen und Herbert Grönemeyer. Wie heute ging ich auch damals durch Straßen, ohne da zu sein. Ich war allein, einsam, die die nicht passte. Und dennoch fand ich immer wieder Menschen, wo es anders war. Ich fand Orte, an denen ich sein konnte. Menschen die hinter meine Fassade schauen und den Menschen erblicken konnten, der ich eigentlich bin. Ich war auch damals einsam in mir drin – aber auch gedankenloser als heute. Ich hatte nicht den Drang danach, Menschen zu begegnen – ich wollte nur allein sein. Allein in meiner ganz eigenen Welt.
Und manchmal frage ich mich, was aus dieser 15-jährigen geworden ist. Ich frage mich, wo die Gedankenlosigkeit auf der Strecke blieb. Wo ist sie hin, die die nachts lachend durch die Straßen lief, laut singend und vollkommen frei? Wo ist sie geblieben, die die gegen alles rebellierte?
Ich frage nach innen und als Antwort erhalte ich einen Platzregen aus Erinnerungsfetzen. Da ist sie geblieben. In dem Raum. In dem Schmerz. In der Angst. In all den Momenten, in denen man uns mundtot machte. Auf einer schmuddeligen Matte in einem Hinterzimmer, mit dem vertrauten Klang der früheren Therapeutin, im unerreichbaren Nebenraum. In einem Auto, abgestellt mitten im Wald, spät am Abend. Zu gutgläubig, zu gedankenlos.

Unsere Welt ist scheinbar „normal“. Eine eigene Wohnung, ausgestattet mit allem was nötig ist. Viele persönliche Gegenstände, nach unserem Geschmack gestaltet so gut es schon gelingen konnte. Alles scheinbar ganz normal. Wir gehen die Straßen entlang wie hunderte andere, die Stöpsel in den Ohren. Keiner sieht uns an, dass wir uns hinter einer dicken Milchglaswand bewegen. Wir gehen in unsere Wohnung, setzten uns auf den Stuhl und harren aus. Stunde um Stunde. Kein Ton darf uns verraten. Schleichen über den Boden, damit uns niemand hört. Am Abend schließen wir die Wohnungstür mehrfach gesichert ab, trotzdem bleibt die Angst, dass jemand kommt. Atem in der Stille der Nacht. Unser Atem, der nicht weniger Angst macht als der eines anderen……………………………

Rund 93850 Minuten hat es gebraucht, bis an einem ganz gewöhnlichen Vormittag im Wohnzimmer die Stille unterbrochen werden durfte. Zum ersten Mal war es möglich, einfach das Radio einzuschalten.

Alltags-Wahnsinn

Wahrheit begreifen


Auf unserem Schreibtisch steht so ein Abreißkalender, der an jedem Tag einen Gedanken preisgibt, der manchmal mehr und manchmal weniger zum Nachdenken anregt. Nun halten einige bei uns es für ziemlich unwichtig, diese Kalenderblätter anzusehen. Und so passiert es häufiger, dass einige Tage vergehen, ehe jemand den Kalender auf den aktuellen Stand bringt. So war es auch in dieser Woche. Es wurde Mittwochabend, ehe jemand den Kalender von Freitag auf Mittwoch aktualisierte. Man sah sich an, was dort in den vergangenen Tagen stand, ob etwas davon interessant und gerade zum eigenen Erleben passend erscheint. Am Montag blieben wir hängen.

Montag, was für ein Tag. Da steht dort „Deine Wahrheit ist in dir, sie kann anders sein als die deines Gegenübers. Fühle heute deiner Wahrheit nach, was sie in dir bewirkt und ob du dich damit stimmig entscheidest.“ Vermutlich wird sich unsere Thera ein leichtes Grinsen nicht verkneifen können, bei diesem Gedanken, ausgerechnet am letzten Montag. Wie passend.

Nein, unsere Wahrheit scheint nicht übereinzustimmen mit den Wahrheiten die man uns weismachen wollte. Was sie in mir bewirkt? Sie hat mich in einen Schockzustand manövriert, der lähmt und betäubt. Schlimmer als jede Explosion. Alles gerät ins Wanke und scheint nicht mehr zu stimmen. Und dennoch ja, es scheint stimmig zu sein, trotz all der „aber das kann doch nicht“ und „gar nicht möglich“ und „alles Lügen“.

Ich gehe zurück, zu einem Zeitpunkt vor fast elf Jahren. Damals lernten wir einen Menschen kennen, mit dem wir ungewöhnlich schnell eine äußerst intensive zwischenmenschlich emotionale Beziehung herstellten. Der erste Mensch in unserem Leben, zu dem wir als Ganzes Vertrauen fassten. Wir kannten sie nur sechs Monate, doch gefühlt schon ewig. Wir sahen uns an vier Tagen in der Woche, sie war unser Fels, an dem wir Halt fanden, alle die wollten. Als sie verkündete, dass sie wegziehen würde, brachen wir vollkommen zusammen. Nicht vor ihr, nicht solange sie anwesend war. Sie hatte es gesagt und wir waren innerlich völlig erstarrt, nach außen zeigten wir sofort eine starke Fassade. Als sich die Wohnungstür hinter ihr schloss, brachen wir zusammen. Tage vergingen, ohne Erinnerung, ohne Empfinden, ohne Alltagsfunktion. Es war als hätte unser Leben aufgehört. Das Leben was gerade erst begonnen hatte.
Damals haben wir uns vieles anhören müssen. Von Vorwürfen gegen diesen Menschen, weil man damit ja hätte verantwortungsvoller umgehen müssen, über Verständnislosigkeit über unseren Zusammenbruch bis hin zu Unterstellungen, man würde alles dramatisieren. Niemand wollte verstehen, niemand hat versucht zu hinterfragen.
Niemand kam auf die Idee, dass es uns aus der Realität rausgehauen hat. Niemand hat erkennen wollen, dass wir mitten in einer Zeit gelandet waren, in der wir hilflos ausgeliefert und allein waren.
Man hat uns verurteilt und beschuldigt, alles schlimmer zu machen als es sein kann. Hat uns beschimpft, nicht erwachsen sein zu wollen und keine Verantwortung für uns übernehmen zu wollen. Und in uns sorgten alle Schutzmechanismen dafür, nicht erkennen zu lassen was wirklich geschehen ist, damals, als der Körper ganz real ein Kind war und hilflos und allein.

Fast elf Jahre sind vergangen, der Schmerz in uns ziemlich unverändert da geblieben. In unserer Thera haben wir einen Menschen gefunden, dem wir auf ganz ähnliche Art nah sind. Doch jedes Mal, wenn der Termin endet, wenn Wochenende ist, therapiefreie Zeiten, und viele undefinierbare Kleinigkeiten, taucht plötzlich ein Druck hinterm Brustbein auf. Einer, der sich anfühlt wie ein tonloser Schrei, etwas was die Kehle zuschnürt und einem die Luft nimmt. Und dann taumelt alles haltlos in ein Nichts. Mögliche Erklärungen scheinen über den Kopf gesucht zu werden. Erklärungen die nichts zu erklären scheinen.
Ich lenke mich ab, überlagere den inneren Schrei, den unaushaltbaren Sehnsuchtsschmerz, mit Aktivitäten die den Kopf beschäftigen. Nur nicht fühlen müssen.

Doch nun im Frühling gibt es etwas, was regelmäßig eine Zeit des inneren Austausches schafft. Wenn wir den Rasen mähen ist endlos viel Zeit in der der Kopf nichts tun muss. Es entstehen Gespräche und es werden Gefühle gezeigt. Am letzten Freitag entschieden wir recht spontan, den Rasen zu mähen, wenigstens einen Teil. Aber schon beim Rausgehen fing der Druck im Brustkorb an und man hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Ich schob es weg. Immer wieder wurde es so übermächtig, dass ich reinflüchten, mich in die Hängematte einkuscheln und endlos weinen wollte. Doch ich erlaubte es nicht, dem Gefühl nachzugeben. Immer deutlicher wurde, dass dieses Gefühl mit einem Menschen verbunden ist. Ich konnte sie vor mir sehen, meine 13 Jahre ältere Schwester. Und dann prangten sie wieder in meinem Kopf, die Buchstaben im Stammbuch der Eltern, die ich dort über dem Eintrag meiner Geburt gelesen habe, damals als ich Jugendliche war. Dort standen die zu einer Überschrift angeordneten Druckbuchstaben. AN KINDESSTATT ANGENOMMENES KIND ANDERER ELTERN. Sie hatten sich in mir eingebrannt. Genauso wie die wegwischende Erklärung der Mutter, dass es nichts zu sagen habe, es habe keine Geburtsurkunde mehr gegeben. Und man solle nicht so ein Theater machen. Sie wollte nicht mehr darüber sprechen.

Da war es wieder in mir. Und wieder und wieder spüre ich den Sehnsuchtsschmerz in mir. Immer deutlicher wird der Schmerz, wenn ich mich dem Gedanken an meine älteste Schwester nähere. Sie, die sich um mich gekümmert hat als ich klein war. Sie, die mich immer umsorgt hat. Ihr sorgender, liebevoller Blick, der auf Fotos auf mich gerichtet ist.

Schon einmal gab es eine Ahnung. Schon einmal hatte ich sie weggewischt und unter dicken Schichten begraben. Da war sie wieder. Kaum aussprechbar, nicht formulierbar. Wieder und wieder ist da der Schmerz. Eingebrannt auch der Moment, in dem man dort in der Wohnung stand und die Wiege sah, plötzlich wie aus dem Nichts begriff, dass sie eine eigene Familie haben würde. Worte anderer, die immer wieder sagten, dass sie ein eigenes Kind haben würde, eine richtige Mama sein würde. In mir war es tot. Ich blieb allein. Sie kam nie mehr zurück. Nie mehr nahm sie mich liebevoll in die Arme. Nie mehr sah sie mich mit diesem Blick an. Sie hatte mich vergessen. Ich gehörte nicht mehr zu ihr. Ich hatte vernünftig zu sein.

Es mögen wohl fast 35 Jahre vergangen sein, seit sie damals ging. Ich wuchs auf mit der Wahrheit, dass wir eine „normale“ Familie sind. Eltern mit fünf Kindern. Eltern, die ein eigenes Haus gebaut haben. Eltern die ihre Kinder in der Verwandtschaft unterbrachten, um in Ruhe das Haus bauen zu können. Während des Baus wurde die Mutter erneut schwanger und pünktlich zur Geburt konnte man ins neue Heim ziehen. Es war meine Geburt.

Es war ihre Wahrheit, die sie alle glauben ließen. Ihre Wahrheit, mit der sie mich aufzogen. Ihre Wahrheit, die für alle galt.

Am letzten Montag, als durch die Kehle und über die Lippen dieses Körpers Worte einen Weg nach außen fanden, nahm unsere Wahrheit Gestalt an.

Und wenn es nicht meine Schwester war die ging, sondern meine Mutter?
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Alltags-Wahnsinn

sprach-los


Heute erscheint es, als hätte der Himmel für einen Moment das gesagt, was wir kaum in Worte fassen können.

Es sah so unscheinbar, so normal aus, für einen Morgen im Februar.

Ein Morgen an dem Bäume und Gräser von Raureif überzogen sind.

So erscheinen auch wir so oft.

Nach außen so normal,

so unscheinbar,

selbstverständlich.

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Man sieht die Wolken wie etwas,

was wie ein Schatten über uns liegt.

Dicke Wolken,

die kaum einen Blick auf das Dahinter gewähren.

Und dann taucht es ganz unscheinbar auf,

nur ein kleiner Streifen gibt ihn frei,

den Blick auf das was wirklich dahinter ist.

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Und ganz schnell wird es sichtbarer,

deutlicher,

greifbarer.

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Breitet sich aus,

nimmt Raum ein,

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Für einen Moment gibt der Himmel

den Blick auf das Dahinter frei.

Für einen Moment scheint es,

als gäbe er den Blick frei

in den tief in uns verborgenen

SCHMERZENs-SCHREI.

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Um sich sofort

wieder

zu

verschließen.

Alltags-Wahnsinn

schlaflos


Eine weitere Nacht, in der um jede Minute Schlaf gekämpft wird. Ich weiß nicht was los ist, kann nicht benennen warum ich daliege und kämpfe. Um den Schlaf. Mit unguten Körpergefühlen. Mit tausenden von Gedanken. Der Rücken schmerzt als wäre ich hunderte von Kilometern mit dem Auto gefahren. Dabei habe ich das Auto seit drei Tagen nicht mal mehr gesehen. Es ist wohl einfach nur die Zeit, die es so schwer macht.

Ein Jahr ist es her, seit ich den Kontakt zu der Herkunftsfamilie abgebrochen habe. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich es aus meiner ganz eigenen Entscheidung heraus getan. Und ich habe durchgehalten. Manchmal gab und gibt es Bedenken, ob das gedurft wird, ob es so wirklich in Ordnung ist. Habe ich das Recht, diese Menschen so zurückzustoßen, und kann es wirklich richtig sein, die einzigen Menschen zu denen ich scheinbar wirklich gehöre, aus meinem Leben zu verbannen. Solche Fragen gehen durch den Kopf.

In der Osterzeit gab es einen Anruf. Wir sahen die Nummer im Display und schalteten daraufhin den Anrufbeantworter an. Seitdem läuft er ständig. Zum Geburtstag gab es wieder einen Anruf. Keine Nachricht auf dem AB. Es war der letzte Versuch. Seit Juli keine Anrufe mehr. Auch jetzt zu Weihnachten nichts.

Vor einer guten Woche fuhren wir in die „alte Heimat“. Wir fuhren in die Stadt, in der wir viele Jahre gelebt haben, als junge Erwachsene, alleine, ohne die Familie und doch nah genug bei ihnen. In einem Nebensatz fiel die Info über die bevorstehende Fahrt in der Therapie aus unserem Mund. Wir waren voller Vorfreude. Vorfreude auf den dortigen Weihnachtsmarkt, die Buchhandlung in der wir viele Stunden verbracht haben, den kleinen Laden in dem wir uns immer so seltsam frei fühlen konnten. Wir freuten uns auf die so vertrauten Eindrücke, die wir irgendwie auch vermissen.

Die Mami-Frau hat den Nebensatz gehört und eigentlich nichts dazu gesagt. Nur nachgefragt, was wir dort vorhaben. Mehr nicht. Aber unseren feinen Antennen ist das winzige Zusammenzucken nicht entgangen. Sie hat nichts gesagt und doch haben wir gespürt wie ihre Sorge hochschoss. In der folgenden Nacht gab es wenig Schlaf. Die Gedanken wanderten durch den Kopf und sorgten für Unruhe. Und es musste noch ganz dringend an sie geschrieben werden. Sie musste beruhigt werden, Dinge erklärt werden. Nein, sie sollte nicht in Sorge sein. Nicht unnötig und nicht um uns.

Später haben wir darüber gesprochen. Sie war wirklich in Sorge gewesen, wir würden dort wieder Kontakt zur Familie, zu den Eltern suchen und aufnehmen. Würden uns in Gefahr begeben.

Doch es ist absurd, weil unmöglich. Aber das kann sie nicht wissen.

Der Platz, den wir dort hatten und vielleicht haben könnten, es war der den sie uns zugeschrieben haben. Wir hockten auf ihm, mehr als die Hälfte unseres Lebens. Haben immer mal wieder aufgemuckt und angedroht, ihn zu verlassen. Aber wirklich getan haben wir es nicht. Wir haben immer weiter ausgehalten, ertragen, geduldet, uns gefügt. Bis wir vor einem Jahr alles abgebrochen haben.

In diesem Jahr ist unendlich viel geschehen. So viele Schutzwände sind gefallen, Erinnerungen brachen auf, die so lange wie verschüttet waren. Gefühle wurden freigeschaufelt und von meterdicken Eisschichten befreit. Aus einem Druck im Brustkorb und einem Gefühl von Haltlosigkeit ist ein Gefühlt von innerem Schmerz und ein Schrei nach Liebe geworden. Dieses diffuse Gefühl ist zu einer kleinen, einsamen Kinderseele im Innern geworden.

Ein einziges Mal, vor einer Woche, ist ihr Schrei in der Therapie ganz wirklich laut geworden. Haben sich Worte gebildet, die aus uns herausschossen und unzählige Tränen.

Wie könnte ich sie wieder an den Ort bringen, an dem dieser Schrei ungesehen, ungehört und ungestillt blieb, all die vielen Jahre. Die Kälte dort könnte nicht mehr ausgehalten werden, weil der Schmerz heute zu fühlen ist und nicht wie damals unter vielen dicken Schichten von Eis eingefroren.

Doch das ist nicht alles. Denn es gibt sie natürlich, diejenigen unter uns, die dennoch ganz dringend wieder Teil dieser Familie sein wollen. Die die wissen, dass wir ungehorsam und böse sind.

Ein ganzes Jahr sind wir schon nicht lieb, haben wir schon nicht getan was erwartet und verlangt wird. Was würde da wohl geschehen, wir würden plötzlich dort anrufen, vor der Tür stehen? Sie würden uns wohl nicht freudig in ihre Arme schließen. Sie wären wütend, würden uns ächten, uns abstrafen für das Fehlverhalten. Wir haben verschissen für alle Zeiten. Wir sind der Verrat in Menschengestalt. Wir haben die schöne Fassade verraten. Haben das Herz der Mutter gebrochen. Wir sind die böse Tochter. Die lieblose Schwester. Wir sind böse und falsch.

So ist das in der Sippe. So war das immer. Wer ausbracht, wer anders war, wer sich nicht anpasste, nicht unterwarf, das Spiel nicht mehr mitspielte, wurde geächtet.

Es gibt kein Zurück mehr, weil die Strafe zu hoch ist. In jeder Hinsicht.

Am Tag vor Weihnachten kamen wir von der Therapie zurück und hatten Post bekommen. Nur ein Satz der Liebsten: „Du hast Post“, kein Erkennen in ihrem Gesichtsausdruck. Alles schoss quer in uns. Der Brief liegt auf dem Schreibtisch, sagte sie. Wir haben vermieden, rausgezögert. Sie war wohl neugierig, hielt es kaum aus. Es ratterte im Kopf. Was wenn die Mutter geschrieben hat? Was wenn es etwas ist, was den Boden wegzieht? Jetzt vor Weihnachten? Nach vielem Zögern haben wir uns dann doch auf den Weg gemacht. Blieben schon kurz hinter der Tür stehen und sahen von weitem die Schrift auf dem Umschlag. Mehr als zwanzig Jahre ist es her, dass wir diese Schrift gesehen haben. Unendlich viele Jahre sind vergangen. Mein ganzes Leben ist dazwischen zusammengebrochen. Und jetzt liegt da dieser Brief wie eine Brücke zu einer Zeit, die wie aus einem anderen Leben ist.

Es ist ein Brief von einer Jugendfreundin, nicht irgendeiner, einer ganz besonderen. Wir hatten sie vor einer Weile übers Internet gefunden und Kontakt aufgenommen. Sie wollte schreiben, ganz „altmodisch“ per Brief. Wir hatten eine ganze Weile gehofft und dann den Gedanken daran gelöscht. Somit waren wir völlig unvorbereitet.

Diese Schrift zu sehen ließ so viele Gefühle hochschwappen. Wir haben ihre Zeilen verschlungen, wie ein Schwamm aufgesaugt, wie Lebenselexier. Sie war ein so besonderer Mensch in unserem Leben. Sie war schon damals wie aus einer anderen Welt. Ihr Leben und meines, dazwischen lagen Welten und dennoch hat es Dinge gegeben, Begebenheiten, die uns zusammengeführt haben. Für uns war es einer der bedeutendsten Kontakte die es in der Zeit gab. Sie war jemand von denen für die wir immer nur der Abschaum waren. Sie ging aufs Gymnasium, ihre Eltern schienen deutlich besser gestellt zu sein als meine, ihre Hobbys waren völlig unvorstellbar für jemanden wie mich, die durfte ich nicht mal träumen. Die Musik die sie hörte war mir völlig fremd. Ich habe all dieses Fremde, Andersartige in mich aufgesaugt. Jeder Moment mit ihr war so wertvoll. Wie kostbar sie wirklich waren, diese Momente, habe ich erst begriffen, als ich sie wiedergefunden habe.

Als sie damals wegzog und der Kontakt abbrach, brach mein ganzes Leben zusammen. Nein, nicht wegen ihr, nicht weil sie gegangen war. Nein, nie würde ich ihr eine Schuld geben, niemals fühlen, dass es so sein könnte. Mein Leben brach zusammen, weil es irgendwann geschehen musste. Und es geschah zu einer Zeit als sie es nicht mehr mitbekommen hat. Und vielleicht wäre manches anders gekommen, hätten wir damals noch Kontakt gehabt. Und vielleicht wäre auch nichts dadurch anders gewesen.

Und nun liegen da ihre Zeilen. Sie weiß nur wenig von den letzten mehr als zwanzig Jahren meines Lebens. Weiß nur, dass ich weit weggezogen bin und einen neuen Namen habe. Bisher gab es keine Erklärung von uns dazu.

Ihr Leben erscheint völlig „normal“. Mit den ganz klassischen Alltagssorgen. Ich erahne, dass auch sie schwere Zeiten hinter sich hat und nicht alles so rund läuft wie es scheint. Doch gegen ihr Leben erscheint meines wie schon damals seltsam absurd und unwürdig.

Dann steht da dieser winzige Nebensatz unter vielen anderen. „………… du hattest es ja zuhause nicht so leicht.“ Tränen schossen hoch.

Sie war anders als all die anderen Menschen um mich.

Sie hatte es gemerkt.

Und wie nur soll ich nun darauf antworten? Wie nur mitteilen was in meinem Leben geschehen ist? Wie nur, ohne dabei ein ganzes Buch zu schreiben?

All diese Gedanken, sie füllen die Nächte, in denen Schlaf kaum möglich scheint.

Therapieerfahrungen

der Schlüssel zur Heilung


Wir schleichen seit einer halben Ewigkeit um dieses Thema herum. Immer wieder gab es Einwände und Bedenken und war es nicht möglich zu schreiben was geschrieben werden sollte. Dann schrieben manche von der Mami-Frau und haben damit bei dem einen oder anderen von euch für Verunsicherung gesorgt. Und irgendwie war klar, dass wir doch mal etwas zu dem Thema schreiben sollten. Und manches einfach besser zu erklären, wäre wohl auch gut.

Also wenn hier von der Mami-Frau die Rede ist, dann meinen wir damit niemand anderen als unsere Thera. Es ist unser Name für sie, unser Gefühl für sie. Für die meisten von uns ist das so stimmig.

Und jetzt kann ich förmlich spüren wie die vielen Einwände und Warnungen hochschießen und viele von euch meinen, uns doch irgendwie schützen zu müssen. Schützen davor, dass es ganz schlimm wird, weil alles zu nah wird und sich zu viel vermischt und dann nichts mehr geht. Es ist okay, wenn diese Sorgen und Befürchtungen da sind. Sie sind ja richtig. Und wir wissen ja auch, dass es gefährlich ist. Doch wir wissen auch, dass es nicht anders geht, nicht für uns.

All die Wunden, all der Schmerz, all die Risse in der Seele, sie können nur heilen wenn es Liebe geben kann. Und Liebe kann es für einen Menschen nur geben, wenn er als Kind die Liebe der Mutter oder einer anderen engen Bezugsperson erfährt. Ein Kind ist angewiesen auf die bedingungslose Liebe, um sich wagen zu können, das Leben zu entdecken. Wenn es sich der Liebe dieser einen Bezugsperson sicher sein kann, ist es möglich, Risiken einzugehen, denn es weiß ja, dass dieser Mensch da sein wird und es liebevoll umschließen und trösten wird, wenn etwas schiefgegangen ist. Kinder, die in Liebe aufgewachsen sind, können das Elternhaus in der Sicherheit verlassen, dass die Liebe der Eltern bleibt, auch wenn sie nicht mehr dort wohnen.

Aber wie ist das denn bei einem Kind, das nicht in Liebe aufwächst? Wie ist das bei einem Kind, das nie die Liebe im Gesicht der Mutter sehen konnte? Ich weiß es nicht, wie es wissenschaftlich oder psychologisch erklärt wird. Ich könnte es nachlesen, doch darum geht es für mich nicht. Ich möchte verstehen können wie es bei mir ist. Ich möchte mir selbst erklären können, warum es ist wie es ist.

Seit ich denken kann habe ich nach einer Mutter gesucht, nach einer Mami. Denn eine Mama hatte ich. Und da fängt es an kompliziert zu werden. Mancher wird denken, dass es doch das gleiche ist. Für mich und uns war es das nie.

Die Frau, die mich geboren hat, habe ich Mama genannt, weil ich es nicht anders kannte. Aber ich habe mitbekommen, wenn meine Freundin zu ihrer Mutter Mami sagte und da dieses besondere Band zwischen ihnen war. Eine Mami ist etwas besonderes, so hat sich das angefühlt. Und instinktiv wusste ich schon als kleines Kind, dass mir dieses Mami-Gefühl fehlt. Ich hatte eine Mutter, die mich körperlich versorgt hat. Sie hat mich gewaschen, gefüttert, gewickelt, schlafen gelegt. Sie hat mich physisch versorgt, mehr nicht.

In meiner Phantasie habe ich mir eine andere Familie erschaffen. Dort gab es so eine Mami. Eine die mich tröstend in ihre Arme nahm, so wie ich es bei anderen Kindern und ihren Müttern gesehen habe. Doch in der Realität gab es das nicht. Ich kenne kannte nicht Trost, Liebe, Geborgenheit und zwischenmenschliche Wärme. Ich habe überlebt, weil ich mir eine Welt geschaffen habe, in der ich das bekam, was in der realen Welt unmöglich war.

Und ich habe gehofft und gebetet, dass es doch bitte real werden soll. Ich habe gewünscht, andere Eltern zu haben. Habe mir immer wieder gewünscht, es würde eine Frau kommen, die sagt, dass sie mich mitnimmt, weil ich ihr Kind bin. Aber es kam keine. Ich habe mir Ersatzmütter ausgesucht, die mich nicht wollten. Und wirkliche Liebe gab es dort auch nicht.

Als Kind und eigentlich immer, bis vor wenigen Monaten, habe ich geglaubt, dass mir eine Mutter fehlt. In gewisser Weise stimmt es. Und doch stimmt es auch nicht. Ersatzmütter hat es einige gegeben. Durch sie konnte nicht heilen, was verletzt war.

Was wirklich immer gefehlt hat, ist die bedingungslose Liebe die eine liebende Mutter für ihr Kind fühlt und die das Kind dadurch zurückgeben kann.

Ohne einen Menschen, der einen tröstend in die Arme schließt ist Schmerz so unaushaltbar schlimm, dass er betäubt, weggemacht, verboten werden muss. Und leider nicht nur der Schmerz. Auch Freude und Glücksgefühle. Und überhaupt alles was gefühlt werden kann. Wir blicken in ein Gesicht und können nichts erkennen. Gesichter blicken neutral oder sie sind gefährlich. Wir konnten nicht lernen wie es ist, wenn eine Mutter liebevoll auf ihr Baby schaut. Es gab nur ein nichtssagendes Gesicht oder eines von dem Gefahr ausging.

Wir kommen so nicht gut zurecht im sozialen Miteinander, weil wir die nonverbale Sprache der Menschen nicht gut verstehen können. Und die anderen verstehen nicht unsere Reaktionen.

Aber wir wissen ja, was uns fehlt. Wir wissen ja, dass es möglich ist, das zu lernen. Wir wissen schon so lange was wir brauchen, um heilen zu können. Nur ist es so verdammt schwer.

Da ist doch so viel Angst vor all dem Fremden. Da wird für einen Moment erkannt, dass im Gesicht der Mami-Frau ganz viel Liebe zu sehen ist. Und vermutlich wird auch das nur gesehen, weil zusätzlich eine liebevolle Berührung zu spüren ist. Dann möchte ganz tief darin versunken werden und die Zeit soll bitte stehenbleiben. Und gleichzeitig kriecht die Angst hoch, dass wir uns täuschen und alles ganz anders ist.

Es ist ein Kampf, so viel Verwirrung, so viel Angst.

Und immer dann, wenn gerade wieder geglaubt wird, dass es ganz wirklich wahr ist. Wenn ein Funken von Glauben erlaubt werden kann, wird der kleinste Beweis aufgesammelt, der alles zunichtemachen könnte. Denn der Schmerz, wenn wir uns doch täuschen sollten, er wäre unerträglich. Also lieber gleich den Schmerz spüren, bevor die Liebe noch größer wird und alles noch viel schlimmer. So wird es gefühlt und befürchtet. Denn alles was wir bis jetzt kennen, ist Liebe die schmerzt.

Ich bin ganz sicher, eines Tages wird der Moment da sein, wo plötzlich alle Wolken am Himmel verschwunden sind und die Sonne strahlt wie nie zuvor. Eines Tages wird sie uns ansehen und wir werden wissen, dass es Liebe ist. Ohne Bedingungen. Ohne Gegenleistung. Ohne ein Aber. Wir werden es glauben dürfen, eines Tages.

Und sie wird dableiben und nicht müde werden, immer wieder winzige Tropfen Liebe in uns hineintropfen zu lassen, bis es ausreichend viele sind, um glauben zu dürfen.

Deshalb ist sie unsere Mami-Frau.
Weil sie bleibt.
Auch wenn wir sie bekämpfen.
Sie bleibt, weil sie weiß, dass der Tag kommen wird, an dem wir erlauben können, dass Liebe für uns geglaubt werden darf.

Wir wissen, dass es gefährlich ist, weil es passieren kann, dass wir uns täuschen. Und wir wissen, dass es gefährlich ist, weil es geschehen kann, dass wir es zusammen nicht gut hinbekommen.
Doch im Moment wissen wir, dass die größte Gefahr ist, dass wir vor all dem tiefen Schmerz der spürbarer wird, je mehr wir Liebe fühlen können, davonlaufen.

Es ist so schwer zu verstehen, dass es Grenzen gibt, die ganz untröstlichen Schmerz auslösen, und dennoch gut für uns sind.
Weihnachten ist so eine Grenze.
So wichtig es ist, dass sie da gut auf sich und uns achtet, so stark zerreißt uns auch der alte Schmerz der sich mit der aktuellen Zurückweisung vermischt.

Doch gäbe es da nicht ein Band zwischen uns, wäre es uns nicht möglich, uns im Schmerz von ihr trösten zu lassen. Es wäre ohne bedingungslose Liebe nicht möglich.

Das ist für uns der Schlüssel zur Heilung.

Alltags-Wahnsinn

(k)ein Auslöschen


Langsam und doch sehr sicher wird der Stift über Buchstaben und Zahlen im Kalender gezogen. Ein Wort, das gestrichen wird, eine Zeit, die so nicht stattfinden wird. Zeitgleich kullern unzählige Tränen über die Wangen, tropfen hinab auf die durchgestrichenen Buchstaben, verwischen was dort geschrieben stand.
So oft wurde erklärt. Es wurden Worte gesucht, die verständlich machen. Immer wieder. Erinnerungen wurden hervorgekramt, die verständlich machen könnten. Doch es ist untröstlich. Ohne eine Chance. Es wird darauf hingewiesen, dass es doch Heute ganz anders ist. Doch wie soll geglaubt werden können, wenn doch alles so gleich erscheint.
Ein paar geschrieben Zeilen, die so unwirklich scheinen, fremd, nicht wahr, alles Lüge. Das sagt die nur so. Das stimmt ja gar nicht.

Das Herzchen weint und weint und weint.

Die alten Wunden klaffen wie ein Krater. Herausschießende Lavabrocken sind alte Überzeugungen, eingepflanzte Schuldzuschreibungen, Demütigungen.

Worte scheinen nicht durchzudringen. Alles wiederholt sich, was sich vor so vielen Jahren zugetragen hat. Nichts kann sie trösten, nichts was ich tun könnte.

Draußen fällt Schnee. Dicke Flocken. Ein richtiger Schneesturm. Der schönste Moment in jedem neuen Winter, wenn die ersten Schneeflocken gesehen werden. Ein unbändiges Hoffen und Warten, dass endlich rausgelaufen und ein Schneemann gebaut werden darf. Heute kommt kein Laut, keine Aufregung, kein Funkeln in den Augen. Nur Tränen lassen ein Glitzern erscheinen.

Zu tief ist die Überzeugung, dass man schuld sei und nun dafür bestraft würde. Und ganz sicher war man nicht lieb genug. Und man darf auch gar nicht weinen, weil dann darf man die Mami-Frau ganz sicher nie mehr sehen, weil man ja nicht tapfer ist.

Dort steht geschrieben, dass wir da sein dürfen. Und jeder weiß, dass es nicht die Wahrheit ist.
Wir dürfen in der Welt sein, jedoch nicht da. Nicht bei ihr. Nicht heute, nicht morgen, nicht in einer Zeit soweit die Vorstellung der Kinderseele reicht.

Alte Muster schießen hoch. Wir sollten nicht traurig sein. Wir sollten nicht jemanden vermissen. Wir sollten sie aus dem Gedächtnis löschen, vergessen, dass wir sie je gekannt haben.

„Doch sie kann doch gar nichts dafür.“

Und dann schießen sie hoch, die ganzen verzweifelten Tränen. Eine Woche ist es her, da hat sie noch davon gesprochen, dass wir sie selbst dann noch sehen dürften wenn sie schon ganz alt ist. Wir dürften sie sogar im Rollstuhl durch den Garten fahren. Immer wieder wurde nachgefragt, um es auch ganz sicher richtig verstanden zu haben. In der Zukunft, in vielen Jahren da darf etwas sein. Doch heute dürfen wir nicht mal ihre Stimme übers Telefon hören. Wir sind ausgeschlossen, ausgegrenzt, dürfen nicht da sein.

Gerade fünf Jahre alt war der Körper, da wurde die Mutter krank und kam ins Krankenhaus. Alle durften zu ihr, nur wir nicht. Wir durften sie nicht sehen und wir durften sie nicht hören. Der Bruder hat gesagt, dass ich selbst schuld sei, dass die Mutter nicht da ist. Sie war nur krank. Doch wir hatten Angst, dass sie stirbt. Und wir hatten von da an an jedem Tag Angst, dass sie stirbt und wir die Schuld daran tragen, weil wir nicht lieb waren.

Heute ist es in der Realität ganz anders, doch gefühlt wie damals. Weil wir nicht lieb genug sind, weil wir zu anstrengend sind, weil wir zu wenig Rücksicht nehmen, weil wir nicht wirklich okay sind, deshalb dürfen wir nicht zu ihr. Und deshalb dürfen wir nicht ihre Stimme hören und uns überzeugen, dass es sie ganz wirklich gibt. Keine andere Erklärung kann geglaubt werden.

Dabei gäbe es so eine simple Erklärung. Wir können sie nicht sehen, weil sie nicht arbeitet. Doch dann landen wir im nächsten Loch, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Es war nur ein weiterer Termin, der aus dem Kalender gestrichen wurde.
Für das kleine Herzchen ist es als hätten wir die Mami-Frau für immer aus unserem Leben gestrichen.

Alltags-Wahnsinn

Die Macht der Täter


Schon wieder sind mehr als zwei Monate vergangen, seit wir zum letzten Mal hier geschrieben haben. Inzwischen hat unser Blog sozusagen in unserer Abwesenheit den 1. Geburtstag gefeiert. Und manches was wir in anderen Blogs gelesen haben hat uns berührt und wollte kommentiert werden. Doch innerlich waren wir völlig erstarrt. Ich habe keine Ahnung, ob wir noch immer erstarrt sind und hier gerade meilenweit eigene Grenzen überschreiten oder es einfach ganz doll mutig ist, es wieder zu wagen.

Es hat Ereignisse in unserem realen Leben gegeben, die uns erstarren lassen haben. Da war Kontakt zu anderen Menschen die Opfer von Gewalt geworden sind nicht mehr möglich.

Es war Mitte Juli, als eine ehemalige Mitpatientin einer Klinik uns kontaktierte. Sie hatte uns in einem Netzwerk gefunden und wir waren dumm genug, uns auf den Kontakt einzulassen. Dumm genug, weil wir damals, also etwa vor fünf Jahren, mit ihr Kontakt hatten, den sie in extrem demütigender und verletzender Weise abgebrochen hat. Inzwischen wusste sie nicht einmal mehr warum der Kontakt damals geendet ist und war davon ausgegangen, dass ich ihn beendet hätte. Wie naiv von uns, zu glauben, dass wir dieses Mal darüber sprechen könnten, wenn bei ihr etwas angetickt wird was so heftige Reaktionen auslöst. Auf den Punkt gebracht habe ich geglaubt, wir könnten das zusammen hinkriegen, wenn bei ihr eine Tretmine hochgeht.
Der Kontakt war sehr intensiv und sie hat immer wieder deutlich kundgetan wie wichtig wir ihr doch seien und wie liebgewonnen sie uns doch habe. Der Tag begann oft mit einer Nachricht von ihr auf dem Handy und endete auch mit einer. Wir haben ständig geschrieben, keinen Tag von ihr bekamen wir nicht mit und umgekehrt.
Bis zu dem Tag, an dem sich plötzlich ohne Vorwarnung alles verändert hat. Es war ein Sonntag. Während dem Frühstück kam die erste Nachricht von ihr aufs Handy. Sie beklagte sich darüber, nie ausschlafen zu können, weil ihr Kind sie immer so früh weckt. Unser Vorschlag, sie könne ja auch mal ein Wochenende alleine zu uns kommen, dann könne sie ausschlafen, wurde abgewiesen mit den Worten: „Ohne mein Baby fahre ich nirgends hin“. Dabei hatte sie selbst noch wenige Wochen zuvor angeboten, alleine zu Besuch kommen zu können. Wir waren genervt von dieser Art, haben uns gefragt, warum sie sich beklagt, wenn sie es doch eigentlich nicht anders haben will. Entsprechend war wohl unsere Reaktion. Es folgten noch mehr ganz ähnliche Äußerungen im Laufe des Vormittags, bis dann am Nachmittag endgültig alles eskalierte. Sie hatte sich darüber beklagt, dass ihr Kind schon schläft, eine Stunde zu früh und dann sei er am Nachmittag nörgelig und das ist so eigentlich nicht okay. Ich fragte nach und fragte nach, um irgendwie verstehen zu können. Ich habe kein kleines Kind. Und doch hätte es anders sein sollen. Joschy wäre auf den Tag genau drei Monate älter als ihr Kind. Es hat oft sehr geschmerzt und wir haben nichts gesagt. An diesem Sonntag wollten wir einfach nur verstehen wo da ihr Problem ist. Wir selbst haben vor einer Ewigkeit ein „Pflegekind“ gehabt und können uns schon daran erinnern wie das war. Im Laufe des Dialogs entwickelte sich für uns ungefähr so ein Bild: Kinder brauchen einen klaren Rahmen und Grenzen. Es braucht feste Zeiten die den Tag strukturieren. Wenn noch nicht Schlafenszeit ist, dann muss er beschäftigt werden bis die Zeit erreicht ist, wo er schlafen darf.
In uns schrillten alle Alarmglocken. Wie schlimm wenn einem Kind seine Grundbedürfnisse abgesprochen werden. Wie schlimm, wenn es nicht essen, trinken, schlafen darf, wenn es das Bedürfnis hat. Und ich habe diesen wohl fatalen Satz geschrieben. „Dann machst du im Zweifelsfall nichts anderes als deine Mutter getan hat, nur eben anders.“ Ihre Mutter hatte sie scheinbar vernachlässigt. Das tut sie ganz sicher nicht. Aber einem Kind Grundbedürfnisse abzusprechen ist keineswegs besser. Wir wollten mit diesem Satz Augen öffnen, warnen vor dem was sie ihrem Kind damit antut. Sie hat es wohl anders verstanden.
Es folgten üble Beschimpfungen und Demütigungen gegen uns. So extrem, dass wir völlig getriggert waren. Dennoch haben wir uns bemüht, sie nicht anzugreifen, nur von unserer Wahrnehmung zu schreiben, einfach, damit es sich beruhigen kann. Aber es hat sich nicht beruhigt. Wir wollten so keinen Kontakt mehr, weil sie sehr respektlos war und wir dieses Verhalten doch bereits von ihr kannten. Hatte sie doch all das schon einmal mit uns getan. Und bereits damals uns die ganze Verantwortung zugeschoben. Sie hat Tatsachen verdreht und behauptet, dass wir sie verdrehen. Ihr eigenes Verhalten hat sie uns angelastet. Wir fühlten uns wie in den Fängen der Täter, die auf uns einreden, uns manipulieren und so verwirren, dass wir nicht mehr wissen was wahr ist. Wir brachen den Kontakt zu ihr ab, um uns vor weiteren Übergriffen zu schützen. Doch sie machte auch keinen Halt davor, uns ganz öffentlich zu demütigen.

Am Ende blieb in uns nur noch die Frage, wie schlimm es für sie gewesen sein muss, als Kind, dass sie heute das Verhalten der Täter braucht, um sich vor der Wahrheit zu schützen.

Ich hatte bereits häufiger mal erwähnt, dass unsere Erfahrungen im Kontakt mit anderen Betroffenen keine wirklich guten sind. Und wir haben auch hier wieder nur erneut bestätigt bekommen, dass es für uns nicht gut ist, wenn wir mit anderen Menschen im Kontakt sind, die betroffen sind von Gewalterfahrungen. So sehr wir uns auch wünschen, dass es möglich ist, mit einem anderen Menschen Zeit zu verbringen, der viele Folgen aus eigener Erfahrung kennt, dem man manches einfach nicht erklären muss, jemand der wie wir Worte erfindet und Feinheiten sehen kann, die sonst niemand erkennt. Es bleibt immer die Gefahr, angetriggert zu werden, nicht mehr erkennen zu können, dass das Gegenüber selbst Betroffene ist und nicht Täter.
Und wenn es noch so oft Zweifel daran gibt, ob wir uns selbst eigentlich glauben dürfen. Wenn wir immer wieder infrage stellen, ob wir wirklich Viele sind, ob uns wirklich all das geschehen ist was wir erinnern. In dem Moment, in dem die Spirale im Innern sich beginnt zu drehen, in dem Augenblick wenn die Angst zur Todesangst wird und wir eine unendliche Verwirrung spüren. In diesem Moment gibt es keine Zweifel mehr.

Als wir diesen Menschen kennenlernten waren wir Patientin in einer Klinik. Es war keine Traumaklinik, sondern eine in der man sich auf ADHS und Essstörungen spezialisiert hatte. Dort sind Sachen vorgefallen die uns in Panik versetzt haben. Dort gab es einen Chefarzt, der keine Gelegenheit ausließ, uns vor der Gruppe vorzuführen, unsere Lügen aufzudecken. Er hatte die Macht und sein Wort war Gesetz. Alle hat er manipuliert. Und es gab eine Therapeutin, die dort erst neu war. Sie hat uns geglaubt, sie hat uns beschützt wo sie konnte. Und am Ende sind wir beide gegangen. Sie innerhalb ihrer Probezeit und wir bereits nach etwa zehn Tagen. Geblieben ist der Täter.
Die Frau, mit der wir Kontakt hatten, sie hat sich verhalten wie er. Sie hat die gleichen Gefühle in uns ausgelöst. Und es kam mal der Gedanke auf, dass sie es bei ihm abgeguckt haben könnte.
Inzwischen denken wir darüber anders. Ist sie vielleicht auch nur eines seiner Opfer gewesen? War es vielleicht gar kein Zufall, dass sie dort in der Klinik bei ihm gelandet ist? War es auch kein Zufall, dass er plötzlich wenige Tage nach unserer Ankunft die Gruppe übernommen hat, die eigentlich ein ganz anderer Therapeut hätte leiten sollen? War das alles gar kein Zufall? Und war es unsere Rettung, dass wir gegangen sind?

Woran nur ist es zu erkennen wer okay ist und wer von DENEN geschickt und auf uns angesetzt?

Das ist der Grund für die Erstarrung. Deshalb konnten wir hier nicht schreiben. Deshalb konnten wir nichts kommentieren und auch sonst keinen Kontakt mit anderen Betroffenen halten. Denn alles an Kontakt zwischen ihr und uns fand übers Internet statt. Wir haben in diesen Wochen nie telefoniert, uns nie gesehen. Nur geschrieben. Und dennoch waren die Folgen nicht weniger schlimm als hätte wir Live-Kontakte gehabt.

Alltags-Wahnsinn

Dämmerzustand


Alles ist eingetaucht in eine andere Zeit, andere Geschwindigkeiten. Alles erscheint wie der Welt entrückt. Eingehüllt in dicken Nebel, der alles verschlingt was sein könnte. Alles bewegt sich wie in Zeitlupe. Finger tippen Tasten an und formen einen Text. Wessen Finger sind das? Sind sie echt, sind sie lebendig.

Der Blick nach innen, gegen eine dicke Wand. Kein Ton dringt aus dem Dahinter an mein Ohr. Ich fühle mich schrecklich einsam und verloren. Ist nur noch Dämmerzustand.

Niemand sieht es mir an, erscheine wie immer. Ist doch alles ganz normal.

Nichts ist normal, gar nichts.

Vorgestern gab es einen Anruf. Die Beratungsstelle, ein Termin für ein erstes Kennenlernen. Sie wünschte schöne Ostertage. Lippen formten ein tonloses Danke und im Kopf fing alles an zu kreisen. Wie kann ein Mensch nur keine Ahnung haben, was diese Worte anrichten? Aber wie sollte sie denn, kennt uns doch gar nicht. Aber haben sie doch gesagt, die würde sich auskennen, etwas mehr Ahnung haben. Sie hat sie wohl doch nicht. Verlangen wir zu viel?

Wir haben den Tag gestern überstanden. Im Dämmerzustand, aber überlebt. Und wir haben so gehofft, es würde ein Aufatmen geben können, wenigstens heute, bevor es in die zweite Runde geht. Doch alles ist geblieben wie es gestern war. Dicke Watte schützt vor der Wirklichkeit.

Es soll Besuch kommen, Bekannte der Liebsten. Wir kennen sie nicht. Keine Ahnung wie wir das durchstehen sollen. Einfach weiteratmen, einfach nur machen. Sie kennen uns nicht, sie wissen nicht wie wir sonst sind. Vielleicht sind sie auch ganz nett. Aber sie sind fremd.

Warten darauf, dass das Telefon klingelt und sie sich ankündigen. Dann bleibt noch eine knappe Stunde. Nicht mal die Liebste weiß wie schlimm es wirklich ist. Egal. Wir müssen weiteratmen. Weitermachen. Irgendwie. Nur überleben. Mehr nicht. Durchhalten, nur noch zwei Tage, dann wird es wieder etwas besser, vier Tage, dann können die Schutzwälle abgebaut werden und alles wird wieder wie es immer war.

Vier Tage fühlen sich wie ewig an.

Alltags-Wahnsinn · Fetzen

Einblicke in Abgründe


ACHTUNG, DER NACHFOLGENDE TEXT KÖNNTE SEHR TRIGGERN!!!!!!!!

 

Etwas Gutes sollte ich mir tun, etwas was mir gut tut, etwas was nicht schädigt, etwas was nicht nur Funktionsmodus ist. Wie soll das aussehen? Wie kann sich das anfühlen? Wie nur kann das möglich sein, etwas das gut tut? Wie soll es zu erspüren sein, vor diesem Hintergrund?

Einblick gewähren, Blicke hinein in Abgründe, hinein in Überzeugungen und Worte die Gutes unmöglich machen. Ich die Lügnerin, die die schon immer gelogen hat, wenn sie den Mund aufmachte. Die, die immer nur Aufmerksamkeit erreichen wollte. Die auf die Tränendrüse gedrückt hat, nur um ihren Willen zu kriegen. Schon immer Papas Liebling und viel zu verwöhnt. Hat ja immer alles gekriegt was sie wollte. Und durfte ja alles. Hat ihr doch keiner was verboten. Die hat immer ihren Willen gekriegt. Später hieß es dann zur Erklärung für die Großeltern, dass „sie krank geworden ist, weil sie zu schlau ist“. Dabei haben sie doch immer gesagt, dass ich krank im Kopf bin. Ich bin nicht zurechnungsfähig, nicht glaubwürdig, wertlos, Abschaum, Müll, ein blödes Miststück. Ich, in die Welt gesetzt ohne Recht auf Liebe, geboren in eine Welt die meine Seele nicht will. Ausgekotzt und liegengelassen. Kinder brauchen nur Nahrung und Luft, die werden von alleine groß. Hätte sie mich doch nur nicht geboren, habe ich einmal in Verzweiflung geschrien und dafür Prügel kassiert. Hätte sie mich nicht geboren, mein Körper hätte nicht benutzt, mein Geist nicht dressiert und meine Seele nicht zerstört werden können.

Irgendwie habe ich mich durchgeschleppt. Ich atme, also bin ich. Und dann atme ich nicht mehr und bin doch noch immer. Zersplittert in winzig kleine Scherben, manche kaum zu erkennen. Ich blende es aus von Zeit zu Zeit. Will im einen Moment nur ein normales Leben und im nächsten gar keins.

Ich sehe diesen Körper, habe ihn noch nie gewollt, habe ihn noch nie besessen. Andere haben ihn sich zu ihrem Besitz gemacht, haben sich daran bedient, ihn benutzt wie einen Gegenstand und hinterher wie Müll am Wegesrand zurückgelassen.

Etwas Gutes soll ich tun, dem Körper, der nicht meiner ist. Etwas Gutes für die Seele, die viel zu zerstört ist, für den Geist, den sie nach ihren Maßstäben dressiert haben.

Wo ist der Mensch, dem ich Gutes tun könnte?

Wo ist der Mensch, der dort sein sollte, wo nur leere Hülle ist?

Fetzen

manches verlernt man nie


Wie immer in dieser Kategorie besteht eine ziemliche Triggergefahr. Also gut auf euch aufpassen oder einfach nicht lesen!

 

 

 

 

Jahre sind vergangen in denen es zwar Momente der Überlegung gab, Momente in denen der Druck unaushaltbar schien, und doch wurde es immer noch irgendwie so geschafft. Es wurde geschafft ohne sichtbare Wunden. Blaue Flecken, rote Schriemen, Beulen und so Sachen. Ja das gab es, aber es floss kein Blut, kein Tropfen.

Wie habe ich das nur geschafft? Wie konnte das gehen? Und warum ist das jetzt so schwer. War der innere Schmerz denn nie so schlimm? Die ganzen Jahre nicht?

Innerlich sterbe ich. Es zerreißt mich. Der Schmerz ist unerträglich. Ich habe alles zerstört und mache es weiter kaputt. Gibt kein Zurück mehr.

Alles ist vorbereitet, alles längst seit Stunden klar. Der Strudel hat nur ein Ziel. Den Schmerz einsperren, damit er nicht gesehen wird.

Ich weiß, es wird gefährlich. Ich werde sehr aufpassen müssen. Darf nicht die Kontrolle verlieren, nicht zu sehr hineingeraten in den Rausch. Und hoffe doch wieder zu spüren, dass der Körper lebt, obwohl ich innerlich sterbe.

Nur ein Missverständnis, nur eine neue Tretmine erwischt, nur eine Verkettung blöder Umstände.

In mir bricht der alte Schmerz hervor. Sie hasst mich. Sie erträgt mich nicht. Ich bin zu viel. Ich bin schuld. Ich habe es zerstört. Ich bin allein. Ganz allein.

Bald wird es besser. Bald wird er betäubt werden der Schmerz. Wird er aushaltbarer. Greifbarer. Erklärbarer.

Ich falle.

Ich habe nicht verlernt wie ich den Fall stoppe………………………………………leider!