Da schwebt sie in der Luft. Nur durch zarte Wurzeln verbunden mit der Erde darunter.
So war das immer.
So war ich immer.
Aber das haben die Menschen nicht so gesehen. Sie haben die Wurzeln nicht gesehen und nicht die Insel und nicht die Tatsache, dass sie nicht stabil verankert in der Erde ist. In ihren Augen gab es weder eine Insel noch Abstand oder gar ein eigenes Sein in einer eigenen Welt.
Ich war das Kind, was sich endlich anpassen sollte. Es sollte nur so sein wie die anderen. So denken wie die. Leichte Fragen stellen. Und sich mit den einfachen Antworten zufrieden geben. Die Regeln kennen und sie niemals hinterfragen. Tun was sie vorgeben.
Und ich war die Jugendliche, die scheinbar grundlos daran scheiterte, eine Ausbildung zu schaffen und sich einzufügen in das was gemeinhin die normale Gesellschaft ist.
Irgendwas stimmt doch nicht. Ach je, da sehe ich den fragenden Blick des Dr.B. der mir gegenüber saß und sich nicht wagte, mich nach erlittener Gewalt zu fragen. Doch den ach so offensichtlichen Autismus übersah er glatt, weil Mädchen das ja nicht haben und überhaupt, Autisten ja keinen Blickkontakt aufnehmen und auch nicht irgendwie kommunikativ und zugewandt sind.
Und auch all die Male wo ich Therapeuten gegenüber äußerte, dass ich ganz sicher bin, dass ich schon anders war ehe ich Todesangst erlebt und dissoziiert habe. Ich war ganz sicher, dass ich bereits so geboren wurde. Ganz tief überzeugt, hier falsch zu sein. Aber auch das wurde nur belächelt und als Folge der komplexen, andauernden Traumata eingeordnet. Darüber musste ich erst kürzlich lachen, als ich einen der alten Berichte las.
Sie alle stolperten über unzählige sich auftürmende Missverständnisse und wunderten sich ein ums andere Mal über meine Reaktionen, die unpassend schienen. Ganz zu schweigen davon, dass die wenigen Male in denen meinem Gesicht eine andere Mimik als Lächeln zu entnehmen war, sich leicht abzählen ließen.
Nein verdammt, es musste an mir liegen. So sagten sie es immer. Schon als ich noch ein kleines Kind war und manche tun es bis heute. Wenn ich nur endlich wollte und doch mal zeigen würde was wirklich in mir steckt. Wenn ich mich nur mal mehr anstrengen und mehr bemühen würde.
Ich habe das getan.
Ich habe in jedem gelesen und versucht herauszufinden, wie ich sein soll, damit ich genau für diesen Menschen bin was er erwartet und wie er mich braucht. Angepasst. Immer und immer wieder. Nur nicht ich gewesen.
Bis ich diesem einen Menschen begegnete der den Unterschied machte. Ich kann nicht mal sagen was diesen Menschen anders sein ließ. Ich weiß es nicht, weil es nichts mit Logik zu tun hat. Die Person stand da und ich spürte eine tiefe Verbindung. Ich nahm nicht mehr den Raum um uns wahr und nicht die Anwesenheit der weiteren Person. Ich hatte sie mitgenommen auf meine Strickleiter, ihr Zutritt auf meine Insel gewährt.
Ich ahnte nicht was geschehen würde. So gar nicht.
Da war plötzlich ein Mensch, der meine Welt sehen durfte. Jemand, der meine Tränen erahnte und dessen Hand ich berühren konnte, ohne die Sorge, sie wieder loslassen zu müssen. Meine Fassade bröselte und wurde durchlässiger. Emotionen ließen sich hier und da weniger steuern. Und aus Angst vor emotionaler Überflutung wurde die Hoffnung auf Fühlen dürfen und lebendig sein dürfen.
Bis zu diesem Moment als ich fühlte, dass es vorbei ist. Als ich ahnte, dass unsere Zeit endet ohne dass ich ohne diesen Menschen in der Welt sein könnte.
Es gipfelte in einer Krise aus der ich nie wieder dorthin zurückkam wo ich vorher war.
Also war ziemlich klar, dass niemand mehr eine Einladung auf meine Insel bekommen sollte. Ich sollte nie mehr riskieren, dass ein Mensch mich so abstürzen lassen kann. Aber ich ahnte auch nicht wirklich wie sehr es nötig war, dass genau das passierte.
Was folgte war eine Odyssee an Meinungen und Erläuterungen von diversen Menschen. Fachlich kompetente Aussagen und laienhafte Ratschläge. Stempel hier und in Schubladen einsortiert da. Verstehen konnte mich nicht einer dieser Menschen.
Ich war schwierig, passte in kein Konzept und nichts was sie kannten. Übertherapiert, aussichtslos, nicht behandelbar. Aussortiert.
Mein Leben war nur noch beherrscht von 24 Stunden täglicher Angst. Sie durchzog jedes Denken und Fühlen. Ich war nichts als Angst. Riesige, lähmende Angst. Ohne Hoffnung auf Linderung. Egal wie mein Körper reagierte, es stellte die Ärzte vor nicht erklärbare Symptome. Also alles psychosomatisch……… ach je, wenn ich daran zurückdenke, muss ich echt den Kopf schütteln. Ja, sie haben mich alleingelassen, die Hilfe verweigert, weil sie selbst es nicht verstanden. Und nein, es war nicht psychosomatisch.
Es war vielleicht einfach Glück und sicherlich war es sowas wie Vorbestimmung. In meinem Leben gab es irgendwie immer auch Menschen, die fähig waren mehr als meine Fassade zu sehen. Menschen, die etwas von dem erspüren konnten, was hinter dieser starren Maske ist. Menschen, die mich nicht aufgegeben haben, sondern mir versucht haben Raum zu schaffen in dem ich meinen Weg gehen könnte. Und so bin ich ihn gegangen.
Mit zig Kurven und Umwegen und ja, ich habe auch so manche Schleife gedreht. Aber letztendlich habe ich es immer auf meine Weise gemacht. Selbstbestimmt, das was ging und was ich in diesem Moment konnte und wollte. Und ganz klar, weil es Menschen gab, die mich darin unterstützt haben. Menschen, die wollten, dass ich es schaffe.
Und wenn ich nicht durch irgendeinen Zufall an dieses eine Buch geraten wäre, wer weiß schon wie lange ich noch mit mir gekämpft hätte. Aber nun, das Buch landete in meinen Händen und mit ihm war wieder Autismus in mir aufgeploppt. Gefühlt mit riesigen, fetten Buchstaben wie eine Neonreklame in meinem Gedankenwirrwarr im Kopf blinkte es unaufhörlich auf. Was wenn es keine Zufälle sind, dass ich den Jungen in dem Buch so gut verstehe? Was wenn es nicht nur ein bisschen Ähnlichkeiten sind? Was wenn dieser Selbsttest nicht schlecht ist, sondern dieses eindeutige Ergebnis wahr ist?
Es ließ mich nicht mehr los, bis ich mich auf den Weg machte, mich in einer speziellen Sprechstunde eines Neuro-psychiatrischen-Zentrums zur Diagnostik anzumelden.
Es war eine schrecklich stressige Zeit. Auch rückblickend. Soviel Angst vor der Klarheit und der Veränderungen die sie bringen würde. Und doch so viel Hoffnung, endlich das fehlende Puzzleteil zu finden.
Wie ist das rückblickend gewesen? Fluch oder Segen?
Es war ein Horror in der Therapie! Es war das schlimmste was in dieser Beziehung geschehen konnte. Ein Gezerre in Richtung Trauma und ein Kampf darum, dass der Autismus gesehen wird.
Es war eine Zeit in der ich mich selbst neu zusammensetzen und finden musste. Meine Identität aus all den Splittern sich zusammenfügen konnte. Ich mich anders erkennen und verstehen lernen konnte. Zu mir stehen. Zu dem wie ich bin. Mich selbst analysieren, um zu erfahren, warum ich dieses oder jenes tue.
Verstehen, warum meine Finger unruhig kneten oder die Hand nach oben greifen will. Bemerken wie die Fersen sich vom Boden heben und die Füße auf die Zehenspitzen wollen, ohne dagegen zu kämpfen, nur damit andere es nicht sehen. Erkennen, dass ich okay bin wie ich bin.
Es war nicht ich als Mensch, der so abgelehnt und verachtet wurde und wird.
Die Menschen verstehen meine Andersartigkeit nicht.
Wer Autismus hört, denkt an Rainman oder heute an Greta Thunberg. Es ist nicht MEIN Autismus. Denn der ist eigentlich nie bei zwei Menschen gleich. Ich bin ich, mit eigenen Stärken und Schwächen und ganz eigenen Vorlieben und ganz eigenen Abneigungen.
Auf den Punkt gebracht wurde mir bereits als kleines Kind beigebracht, dass niemand den Autismus sehen, hören, fühlen, bemerken darf. Der ist tabu, der ist verboten und falsch. Der hat nicht zu sein.
Und weil er nicht von mir zu trennen ist, verstand ich immer, dass ICH falsch und verboten bin.
Und die meisten Menschen auf die ich treffe denken leider genau so. Die schauen mich an und erkennen keinen Unterschied, also hat da auch keiner zu sein.
Wie gerne würde ich dann sagen, dass sie mal die Folie vor den Augen wegnehmen sollten, um erkennen zu können, dass mein Gehirn nicht fähig ist in selber Weise zu funktionieren wie das ihrige. Meine Wahrnehmung wird immer davon geprägt sein, dass Ereignisse schnell traumatisch erlebt werden. Ich werde immer vielschichtiger wahrnehmen als die Mehrheit der Menschen und ich werde immer nach eigenen Worten suchen müssen, um meine Gedanken- und Gefühlswelt zu verbalisieren. Und es wird nie reichen, um einen neurotypischen Menschen wirklich fühlen zu lassen wie es sich anfühlt, auf meiner Insel zu leben.
Aber wenigstens verstecke ich nicht mehr, dass es diese Insel gibt.
Ich verstecke mein Sein nicht mehr hinter einer scheinbar normalen Fassade der Angepasstheit.
Ach und wer sich fragt, natürlich habe ich wieder jemanden auf die Insel mitgenommen. Zum Glück. Denn sonst hätte ich ja mein Herz für den Menschen verschlossen, für den dort schon immer ein Platz gewartet hat.
Und ich bereue nicht einen einzigen Tag, mich für die Autismus-Diagnostik entschieden zu haben.
So weiß ich wenigstens, warum ich mit meinem Auto spreche und es liebevoll streichle, wenn wir uns lange nicht gesehen haben……. Aber das ist eine andere Geschichte.